Turbostaat: Dienstag, 10. Mai 2022, 20 Uhr im Café
Atlantik
aktuelles Album: "Uthelande" (VÖ 17.01.2020)
Die neue Platte von Turbostaat erschien Anfang 2020. Es ist das
siebte Studioalbum und heißt "Uthlande", ein alter Begriff für die
Inseln, Halligen und Marschen vor dem nordfriesischen Festland. Bei
diesem Titel und den dazugehörigen Liedern kommen
unterschiedliche Gedanken in den Kopf. Unter anderem an John Donne
und somit an etwas, das man zwischenzeitlich aus den Augen verloren
hat.
John Donne eröffnete im 17. Jahrhundert eines seiner Prosastücke
mit dem Satz "No Man is an Iland". Die Doppelbedeutung lässt sich
im modernen Englischen nur noch phonetisch nachvollziehen, denn
"Iland" heißt sowohl "Insel" als auch "Ich-Land". Im Deutschen
klingt Simmels "Niemand ist eine Insel" nur halb so aufregend. Es
sagt aber dasselbe: ich kann mich noch so sehr als Einzelstück
aufführen, aber wenn etwas von dir weg ist, ist auch etwas von mir
weg. Und wenn ich weg bin, ist ein Teil vom Ganzen weg. Vielleicht
geht der Titel in die Richtung dieses Bildes. Ein Teil der Uthlande
ist ja bereits Einzelstück für Einzelstück im Meer versunken. Ein
anderer Teil kämpft dagegen an. Und so sieht es auch ein bisschen
mit dem Ich-Land und seiner Umgebung aus, das immer schon der
zentrale Bezugspunkt der Turbostaat-Lyrik war.
Man erinnere sich kurz an die beiden Vorgänger-Alben. Das letzte
behandelte die Frage des menschenwürdigen Lebens, verpackt in die
Geschichte des Aufbruchs an den nicht existenten Ort "Abalonia".
Das vorletzte erzählte von den Orten, an denen die Angst regiert,
was ein ziemlich guter Ausdruck für das ist, was die Angst macht.
Und nach Utopie und Dystopie rückt auf dieser Platte nun eine
dritte Variante in den Vordergrund: Übrigbleiben und Beharren im
Mosaik der Möglichkeiten. Wo diese Möglichkeiten schon mal nicht
liegen, beschreibt etwa "Brockengeist", eines der sehr poppigen,
fließenden Stücke der Platte. Mit Blick auf das gegenwärtige
Popkultur-Geschehen heißt es dort fast lakonisch: "Wer den Schnee
umarmt, wird die Kälte
akzeptieren". Und dann eins mit ihr. In diesem Sinne lässt sich
das am Ende eingestreute Ton Steine Scherben-Zitat wohl auch als
alternative Standortbestimmung verstehen.
Turbostaat sind ein Role Model für eine ganze Generation von
deutschsprachigen Post-Punk-Bands. Manche Leute sind mit ihnen
älter geworden, manche haben sie dabei aus den Augen verloren.
Manche sind selbst schon wieder weg. Wer nach 21 Jahren noch da
ist, gehört zu den Übriggebliebenen und den Beharrlichen. Die erste
relevante Frage ist dabei, wie man das musikalisch meistert. Wer
die Entwicklung der Band verfolgt hat, wird sagen, dass sie sich
gleich zu Beginn einen sehr soliden eigenen musikalischen Rahmen
und Stil aufgebaut hat, der über die einzelnen Platten hinweg immer
wieder etwas justiert und gut dosiert weiterentwickelt wurde. Und
jetzt?
Gibt es noch die Schafe auf dem Deich, den Leuchtturm, den Nebel
und immer diesen Wind. Aber man ist auf dem falschen Weg, wenn man
in diesen Zutaten bloß den Norden als Landschaft und Region
erkennen will und nicht Bilder für die Orte, an denen sich das
soziale Wetter zusammenbraut. Es gibt immer noch diese fast privat
wirkende Politisierung, deren Botschaft einen nicht gleich
anspringt. Aber man muss sich auf dieser Platte schon sehr
anstrengen, sie zu überhören. Wie in dem wütenden und energischen
"Rattenlinie Nord", in dem der aktuelle völkische Frühling von
seinem Ende aus gedacht wird. Am Ende der von ihnen angerichteten
Verheerungen trifft man die Bande immer auf der Flucht - vor allem
vor der Verantwortung. Und dann, auch das gehört zur illusionslosen
Wahrheit, geht es wieder von vorne los.